Edradour war die letzte Brennerei auf meiner ersten großen Whisky- Reise durch Schottland im Mai 2014 und sollte mir eine Lehre in Sachen „Zeitmanagement“ werden. Am Tag vor meiner Abreise, reiste ich über die A9 gen Süden und kam so zwangsläufig an der Dalwhinnie Distillery vorbei (Link zum Artikel). Als Whiskyfan fühlt man sich in Schottland wie ein Kind in Willy Wonkas Schokoladenfabrik. So konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, auch noch einen Abstecher zu dieser Brennerei zu machen. Ich hatte ja reichlich Zeit und die liebe Neu-Gier nahm mal wieder die Zügel in die Hand. So wollte ich Greenhorn damals zwei Brennereien am selben Tag „abreißen“. Als ich schließlich im malerischen Highland-Städtchen Pitlochry eintraf, wurde mir klar,
dass Edradour nicht wie vermutet direkt im Ort, sondern ca. 3 Meilen außerhalb zu liegen schien. Auf der Suche nach dem angeblich leicht zu findenden Wanderweg zur Brennerei verfranzte ich mich anständig und verpasste so meine gebuchte Tour an diesem Tag. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit ein paar Pints und meinen Hostelgenossen im örtlichen Pub zu trösten. Nachtrag: Mittlerweile habe die Brennerei mehrere Male besucht und den Wanderweg gefunden… Unbedingt empfohlen (wenn man ihn findet ;)!
Am Tag meiner Abreise machte ich mich dann mit dem Mietwagen auf den Weg zur Brennerei, um wenigstens noch eine Tour und ein paar schöne Bilder mitzunehmen. Und wahrlich, die Brennerei hielt was mir zuvor versprochen wurde. Beworben als „kleinste“ Brennerei Schottlands, machte Edradour wirklich einen goldigen Eindruck. Die weißgetünchten Häuser mit den roten Toren, das viele Grün und der kleine Fluss, der sich plätschernd durchs Brennerei-Gelände schlängelte, gaben mir wieder einmal das Gefühl, direkt in eine Tolkien-Verfilmung gestolpert zu sein.
Mittlerweile hat Edradour sich von dem Titel gelöst und am Eingangsschild einen passenden Ersatz gefunden: „Scotlands little gem“ – „Schottlands kleines Juwel“ ist nun dort zu lesen. Einen passenderen Titel hätte sich die Brennerei nicht verleihen können, zählt sie doch aus meiner Sicht zu den sehenswertesten Brennerei des Landes. Um der großen Nachfrage nach den Single Malts aus dem Hause Edradour Herr zu werden, hat die Brennerei mittlerweile expandiert. Auf dem Gelände wurde eine Kopie der Original-Brennerei erbaut, um nun auch den torf-rauchigen Ballechin und den nicht-rauchigen Edradour Whisky in zwei verschiedenen Anlagen produzieren zu können.
Edradour gehört zum unabhängigen Abfüller Signatory Vintage und so ließen sich im Shop eine ganze Reihe Abfüllungen, sowohl von Signatory als auch von der Brennerei selbst bestaunen. Mehr als nur ein Grund immer wieder mal ein Auge auf Edradour zu werfen. Denn die Range war und ist das eigentliche Kronjuwel der Brennerei. Hübsche Gebäude und malerische Landschaften sind schön und gut, aber am Ende zählt auch was ins Glas kommt. Edradour präsentierte sich mit einer derart großen Range von Standardabfüllungen, Finishes und Abfüllungen in Fassstärke, dass mir fast schwindelig wurde (ohne Whisky intus). Insbesondere die vielen Fassstärke-Abfüllungen ließen bereits damals mein Herz höher schlagen. Bis auf die 10jährige Standardabfüllung verzichtet die Brennerei gänzlich auf Kühlfilterung und Farbzusatz und füllt mit mindestens 46% Vol. ab. Kurz gesagt:
Ein Schlaraffenland für Whisky-Liebhaber! Preislich bewegen sich die Highlander in den höheren Etagen, was aber für eine Brennerei dieser Größe mit einer solchen Bandbreite völlig in Ordnung geht.
Die Tour durch die Brennerei empfand ich als nett und etwas altbacken, passend zum Gesamteindruck des Brennerei-Designs. Ein Grenzgang zwischen Omas Wohnzimmer und zeitlosem Auenland-Charme. Die Verkostungs-Whiskys (der 10 Jahre alte und die 12jährige Caledonia Abfüllung) wurden zu Beginn der Tour gereicht, etwas ungewöhnlich, aber eine willkommene Abwechslung. Nachdem meine vorherigen Brennerei-Besuche bei Talisker, Oban und Dalwhinnie stattgefunden hatten, war ich damals noch auf das Fotoverbot eingestellt und ließ daher meine Kamera im Auto… Ein grober Fehler! Während bei Großkonzernen das Fotografieren innerhalb der Brennerei mit der Begründung von „Health and Safety“ untersagt wird, sind viele der kleineren Highland- und Insel-Brennereien hier oft deutlich entspannter unterwegs. So auch Edradour. Als es dann Richtung Lagerhaus ging blutete mir bereits derart das Herz, dass ich die Tourgoddess fragte, ob ich schnell meine Kamera aus dem Auto holen könne. Sie antwortete nur trocken „I can’t make people wait to see the warehouse, wouldn´t it be better if you come back afterwards alone with me to take pictures?“. Ihr Angebot mit mir nach der Tour noch einmal ins Lagerhaus zu gehen um Fotos zu schießen nahm ich dankend an. Mein erster und bei weitem nicht letzter Kontakt mit der schottischen Tiefen-Entspanntheit und Großzügigkeit. So kam ich bei Edradour zu meinen ersten privaten Warehouse-Fotos, wofür ich der Brennerei auf ewig dankbar sein werde. Das Tour Glas (ein richtiges Glencairn Glas) durften wir behalten, womit Edradour damals in Sachen Preis-Leistungs-Verhältnis an die Spitze der schottischen Brennereien schoss. Sie ist es bis heute geblieben.
Das Highlight der Tour war aber der Zutritt zur Bar bzw. Cafe. Ein eigenes Gebäude mit einer kleinen Bar und Kaffeetischchen die Großmutters Herz höher schlagen lassen würden. Und nun kommen wir zum eigentlichen Teil meiner „Lektion in Sachen Zeitplanung“. Denn das „Menu“, das mir in diesem „Cafe“ vorgelegt wurde war einfach nur ein „Augenöffner“ wie es die Hobbits formulieren würden. Eine zweiseitige DIN A4 Seite mit Hausabfüllungen. Alles aus dem Hause Edradour und alles zu sehr humanen Preisen zu haben. Und ich… Vollidiot (excuse my french) musste FAHREN. An dieser Stelle bitte ich die Star Trek Fans unter Euch einen imaginären Jean Luc-Picard einzublenden der voll Entsetzen die sein Gesicht in seine Hände legt. #Facepalm. Sorry Charlie… no golden ticket for you today!
Ich konnte mit gutem Gewissen nur noch eine Ballechin Abfüllung probieren, bevor ich mich mit einer Mischung aus Begeisterung und Frustration zum Auto aufmachte. Wer also Edradour besuchen möchte, sollte genug Zeit und wenn möglich einen gutmütigen Fahrer mitbringen. In diesem Cafe lässt es sich definitiv eine Weile aushalten! Ich jedenfalls plante sofort meinen nächsten Schottland-Aufenthalt, um in dieses Mini-Whisky-Eldorado zurück kehren zu können. Mittlerweile konnte ich dieses Erlebnis mehrfach nachholen und mich glückselig durch eine Reihe genialer Whiskys aus dem Hause Edradour und Signatory Vintage kosten. Und ja, es war so schön, wie ich es mir damals vorgestellt hatte.
Fazit:
Edradour ist eine pittoreske Brennerei mit einem großmütterlichem Charme und der dazu passenden Gelassenheit. Die Experimentierfreude und Vielfalt der Abfüllungen steht auf angenehme Weise im Widerspruch zum traditionell anmutenden Brennerei-Stil. Edradour legt ein unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis vor und hat auch heute nach gut 60 nachfolgenden Brennerei-Besuchen noch immer einen Platz in den Top-5 der sehenswertesten Brennereien Schottlands. Der Besuch ist ein absolutes Muss! Weitermachen!
Slainte Mhath!
Euer Leon